Sie haben es ja so gewollt

Theoretisch stehen Frauen heute alle Türen offen. Doch in der Praxis erweisen sich die alten Bindungen und Belastungen als äußerst zählebig. Ein insgeheimer gesellschaftlicher Widerspruch, den Frauen an ihrem Körper austragen und mit ihrer Gesundheit bezahlen.

Frauen sind die „Beschäftigungsgewinner“.

Das letzte Vierteljahrhundert hat die Emanzipation der Frauen nachhaltig voran gebracht. Insbesondere jüngere Frauen haben in der Bildung mit den gleichaltrigen Männern gleichgezogen; ihnen wird der Anspruch auf eine selbständige Lebensgestaltung und einen guten Beruf zuerkannt. Die Sexualität muss nicht zwingen zur Mutterschaft, die Ehe nicht zur Berufsaufgabe führen. Auf dem Arbeitsmarkt, der sich zu einer Dienstleistungsökonomie wandelt, gehören Frauen zu den „Beschäftigungsgewinnern“.
Oft scheint es, als müssten sie nur zugreifen. Alle politischen Parteien, viele Unternehmen und Behörden klagen, wie schwer es sei, Frauen für die ihnen so gerne angebotenen gehobenen und führenden Positionen zu finden. Immer wieder wird Mädchen vorgehalten, sie stürzten sich auf nur fünf Ausbildungsberufe, wobei diese Vorwürfe gerne übersehen, dass der weitaus größte Teil der „Frauenberufe“ nicht im dualen System der beruflichen Ausbildung angesiedelt ist und daher in dieser Statistik fehlt; die spannende Frage wäre also eher, warum so wenige „Frauenberufe“ ein anerkanntes Berufsbild haben.

Für Mütter hat sich nichts geändert

Anders verhält es sich offenbar mit den Müttern. Die Arbeitsteilung in den Familien hat sich nur wenig verändert. Immer noch sind es die Mütter, die Erziehungsurlaub nehmen und anschließend im Beruf zurückstecken. Arbeitsstudien belegen, dass Frauen in Familien mit mindestens einem Kind mehr als doppelt so viele Stunden für Hausarbeit und Kinderbetreuung aufwenden wie ihre Männer; obwohl sie sich im Berufsleben meist für Teilzeitjobs entscheiden, erreichen Mütter ein Wochenpensum von durchschnittlich 76 Stunden.

Die „eigene Entscheidung“

Diese hohe Arbeitsbelastung und die damit einhergehenden Einschränkungen schreiben die meisten Mütter allerdings nur sich selbst, ihren eigenen höchstpersönlichen Entscheidungen zu. Denn:

-         Es war ja „ihr eigener“ Wunsch „Elternzeit“ zu nehmen, und sie möchte diese Zeit mit dem Kind nicht missen.

-         Sie haben doch als Paar „gemeinsam“ entschieden, den Kindern zuliebe ins Grüne zu ziehen – wo sie dann, wie sich bald
          heraus stellt, leider nur „geringfügige“ Beschäftigungen findet.

-         Und wenn sie ihre Kinder allein erzieht, so war auch das „ihre eigene“ Entscheidung.

„Individualisierung“

Auf der einen Seite gewachsene Freiheit, auf der anderen fortdauernde Gebundenheit und Belastung, die aber als „frei gewählt“ empfunden wird - dieses Deutungsmuster zeigt sich auch in zwei anderen Beispielen. Den Verlust an Pro-Kopf-Einkommen, den Frauen bei Trennungen und Scheidungen erleiden (durchschnittlich 44 Prozent), bewerten sie als weitaus weniger dramatisch als Männer den ihren (sieben Prozent); sie verzichten sogar auf Unterhaltsansprüche für sich selbst, denn sie hatten die Scheidung ja gewollt. Mütter setzen das Recht durch, ihren Kindern im Krankenhaus beizustehen und sie dort emotional wie praktisch zu versorgen – und fühlen sich prompt auch moralisch dazu verpflichtet.

Die Überschrift, unter der solche Entwicklungen zusammengefasst werden, heißt „Individualisierung“. Gemeint ist damit ein Bündel ganz realer Veränderungen, die eine Freisetzung aus Selbstverständlichkeiten, Verpflichtungen und Bindungen von Herkunft, Geburtsstand, Ort und Geschlecht bewirkt haben. Doch diese Freiheit ist für viele Menschen in vielen Abschnitten ihres Lebens eine Illusion; die Zwänge in der Gesellschaft sind mächtig. Noch immer gelangen nur wenige Arbeiterkinder zum Studium, wird bei der Ausbildung eher die sich ergebende Möglichkeit ergriffen als eine bewusste Wahl unter Alternativen getroffen. Trotzdem unterstellt der Begriff der Individualisierung normativ, dass jeder(r) ihren/seinen bisherigen Lebensweg mehr oder weniger bewusst selbst gewählt habe und über die weiteren Lebensereignisse selbst verantwortlich verfügen könne. In diesem Deutungsmuster geht es nicht mehr um wirkliche Freiheit, sondern um die Zurechenbarkeit des faktisch Gewordenen. Individualisierung ist, so Mechtild Oechsle, „eine“ strukturell erzeugte Anforderung an biographische Selbststeuerung, zu der auch die aktive Integration der verschiedenen Lebensbereiche gehört. „Das Ansinnen, alles im Leben selbst zu entscheiden, gilt auch, wenn faktisch eine eigene Steuerung kaum möglich ist.

Es kam anders

Selbst Mütterbilder, die zuweilen wie ein Relikt aus vergangenen Jahrhunderten anmuten, passen sich in dieses Deutungsmuster ein. Die „gute Mutter“ heute ist nicht mehr die aufopfernde, die nie an sich selbst denkt; vielmehr erwachsen ihre Hingabe und Fürsorge aus ihrer Freude am Kind, am Werden dieser unverwechselbaren kleinen Persönlichkeit. Sie bleibt zu Hause, weil sie keine Minute dieser Entfaltung versäumen will.

Ein letztes Beispiel: Als die Abschaffung des Schuldprinzips bei der Scheidung in den 70er-Jahren im Bundestag debattiert wurde, malte man tragische Bilder verlassener Ehefrauen und Mutter an die Wand, deren Männer mit der jungen Sekretärin grünere Wiesen aufsuchen. Es kam anders. Seit der Familienrechtsreform 1977 haben vor allem Frauen die Scheidung eingeleitet und sie als Lösung für innerlich zerrüttete Beziehungslagen ergriffen – eine Befreiung aus dem Zwang vergangener Frauengenerationen. Für Mütter bedeutet diese Freiheit allerdings zugleich meist ein Leben als Alleinerziehende. Viele sagen zwar, dass es ihnen dabei besser geht, seitdem sie nur ein Kind versorgen müssen, und dass es das Leben sehr viel leichter macht, Zeit und Geld selbst einteilen zu können. Dennoch ist es gerade für allein stehende Mütter oft schwer, soziale Kontakte zu pflegen und soziale Ressourcen für die kleinen Engpässe des täglichen Lebens zu finden.

Die kulturelle Abwertung des Weiblichen

Das neue Jahrtausend beginnt also mit einem tief verankerten Zwiespalt zwischen dem Angebot individueller Chancengleichheit, im Prinzip befreit von allen Fesseln und Vorschriften des Geschlechts, und dem realen Fortbestand der kulturellen Unterordnung und Geringschätzung des Weiblichen (die auch Probleme wie sexuelle Übergriffe und Gewalt, Ausnutzung der Fürsorgebereitschaft, Zwang zur mütterlichen Aufopferung und den scheinbar freiwilligen Verzicht auf berufliche Entfaltung nährt).

Die kulturelle Abwertung des Weiblichen tarnt sich vielfach darin, dass sie nicht direkt die Frauen betrifft, sondern deren typische Tätigkeiten (zu denen sie sich scheinbar individuell entscheiden). Frauen leisten insbesondere Arbeit an Personen: Klienten, Patienten, Kunden, und diese Arbeit gilt als „leicht“. Helga Krüger macht darauf aufmerksam, dass die Belastungen dieser Arbeit weder gemessen noch ernst genommen werden. Lärm wird bei der Fabrikarbeit gemessen, nicht im Kindergarten; Stressfaktoren werden bei vielen Frauenarbeitsplätzen nicht untersucht. „Interviews mit Kinderpflegerinnen benennen die Altersgrenzen für das ständige Auf-dem-Boden-Kriechen; Interviews mit Pflegekräften die nervenverschleißende Unverträglichkeit des Dauerlaunenschluckens. Aber wo ist die Schonarbeitsplatzdebatte hier? Berufskrankheiten wurden zuerst bei Männerberufen erfasst, kaum bei Frauenberufen (etwa die Chemiebelastungen bei den Friseurinnen, im Pflegebereich die Rückenerkrankungen durch schweres Heben). „Es ist nicht etwa so, dass körperlich leichtere Arbeit, weil sie leicht ist, den Frauen zugeteilt wird, sondern eher umgekehrt: Was immer auch Frauen tun, gilt als „leichte“ Arbeit, weil Frauen sie leisten.

Frauen entwickeln spezifische gesundheitliche Probleme

In diesem Widerspruch gefangen entwickeln viele Frauen spezifische gesundheitliche Probleme: Sie tragen an ihrem Körper die ungelösten Spannungen aus, die die Gesellschaft auf sie abwälzt. Ursula Müller spricht von der Zumutung, tagtäglich strukturelle Widersprüche individuell zu überwinden“. Die Aufgabe, Arbeit und Familie organisatorisch zu vereinbaren, wird den Frauen als individuell zu lösendes Problem zugeschoben.
Frauen haben eine besondere kulturelle und lebenspraktische Zuständigkeit für das Körperliche, für Pflege, Erziehung, Hygiene. Sie symbolisieren aber zugleich auch mit ihrem Körper für sich und für andere sehr viel: Sexualität, Liebe, Mütterlichkeit, sozialen Status, corporate identy. Was liegt näher, als im und am Körper die Widersprüche zu erleben und zu zeigen?

Mütter billigen sich kein Recht auf Erholung zu

In ihrem Selbstverständnis als Mütter fühlen sich Frauen aufgefordert, eine stets funktionierende Fürsorge für Kinder, Ehemänner und Angehörige zu gewährleisten; es ist ein geflügeltes Word, dass eine Mutter nicht krank werden darf. Diese Fürsorge ist heute weniger sichtbar, weniger materiell fassbar als in früheren Zeiten. Frauen sind für die zeitliche und räumliche Koordinierung der Aktivitäten der Familienmitglieder verantwortlich, für das Beschaffungs- und Transportwesen und dafür, dass die Kinder überhaupt Mahlzeiten einnehmen zwischen Schule, Turnverein, Zahnarzt. In einer Zeit, in der jedes Kind ein Mobiltelefon hat, bekommen sie den kleinen Busunfall auf Klassenreisen brühwarm mit, müssen unverhofft einen Abholdienst organisieren oder auf Krisen eingehen. Sie sind also mehr denn je ständig verfügbar – eine Arbeit und eine Anspannung, die schlechthin unsichtbar sind. Die Leistung, die sie dabei erbringen, ist Müttern vielfach selbst nicht bewusst; folglich fordern sie dafür weder Anerkennung ein, noch billigen sie sich selbst ein Recht auf Erholung zu.

Die verborgene Überforderung

Die unerkannte, weil in einem selbstverständlichen Alltag verborgene Überforderung, äußert sich in unterschiedlichen körperlichen und psychosomatischen Symptomen. Sie verschärfen sich im Zusammenhang mit Lebenslagen wie Armut, Arbeitslosigkeit, Schulden oder Partnerschaftskonflikten, aber auch durch Krankheiten der Kinder und/oder Angehörigen; gerade in solchen Situationen fühlen Mütter zudem eine erhöhte Verpflichtung, die anderen nicht im Stich zu lassen. Auch Konflikte und Aggressionen, die von Zumutungen erregt werden, wenden Mütter bevorzugt nach innen – in der Einsicht, dass sie nicht gegen die Kinder gewendet werden können und sonst niemand dafür gerade steht.

Mütter tragen also am Körper aus, was gesellschaftlich mit ihnen geschieht, auch wenn Leiden wie Depressionen, die bei Frauen mehr als doppelt so oft diagnostiziert werden, weithin als „psychische“ gelten. In Wahrheit ergreifen solche Zustände den ganzen Menschen, Körper, Seele und Geist, lähmen sie und drücken sie zu Boden.

Der lange Weg zur richtigen Behandlung

Diese gesundheitlichen Probleme von Frauen erfahren oft weder adäquates Verständnis noch wirksame Abhilfe. Kein Wunder in einer Gesellschaft, die ihre eigenen Widersprüche als Privatsache der Individuen sieht und das Misslingen des Versuchs, alles unter einen Hut zu bringen, als Defizit der Frauen versteht; die Vorwürfe reichen von unzulänglichen Mustern, mit Stress umzugehen, über die Unfähigkeit „loszulassen“ und „abzugeben“ bis zur fehlenden Selbstbehauptung in der Auseinandersetzung mit dem Partner (und „falscher Partnerwahl“, wenn er den Versuch dazu mit Gewalt beendet). Einrichtungen, Praxen und Selbsthilfe-Organisationen, die bewusst auf spezifische oder typische Frauenprobleme eingehen, stellen oft fest: Frauen müssen lange Wege erfolgloser Untersuchungen und Behandlungen zurücklegen, ehe sie einen Ort finden, an dem ihre Gesundheit als Befinden der ganzen Person in ihrer tatsächlichen sozialen Lage begriffen wird. Das Verhältnis zwischen dem Leib, für das die Medizin sich traditionell zuständig fühlt, und der Seele, deren leiden je nach Einstellung der Psychologie, der Kirche oder der Familie zugewiesen werden, gerät im etablierten Gesundheitssystem auf merkwürdige Weise durcheinander.

So paradox es klingen mag: Während einerseits die ungehinderte Selbstbestimmung der Individuen unabhängig von Geschlecht und Herkunft und die flexible Lebensgestaltung als Ausdruck einer neuen Freiheit propagiert werden, müssen andererseits Medizin, Psychotherapie und Rehabilitation mehr denn je für die verborgenen Zwänge, Überforderungen und auch Spuren der Gewalt sensibel werden, die mit einem sehr alten und weiterhin ungleichen Verhältnis der Geschlechter einhergehen. So gesehen bleibt die Gesundheit von Müttern ein recht zuverlässiges Maß für die Verwirklichung der Gleichberechtigung und die reale Emanzipation von Frauen.

Carol-Hagemann-White